Für die September-Ausgabe der an.schläge habe ich Frigga Haug zum Schwerpunkt „Wie wollen wir arbeiten und leben?“ interviewt.
Die deutsche Soziologin und Philosophin Frigga Haug denkt schon seit Jahren über eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen nach – „eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist“.
In Ihrem Buch „Die Vier-in-einem-Perspektive“ geht es u.a. um die Entwicklung der menschlichen Sinne und der Kultur. Dürfen wir in Zeiten von Finanz- und Staatsschuldenkrise über solche Dinge nachdenken?
Die große Krise trifft die einzelnen ja nicht unmittelbar in der Form der Staatsschuld oder des Bankencrashs, sondern anders: als Bedrohung von Arbeitslosigkeit und Armut, als Zweifel an der Planbarkeit des Lebens. Kurz: Die Krise nötigt auch zur Besinnung auf den Sinn des Lebens, die eigene Stellung in der Gesellschaft, auf nützliches Tun. Dies ist ja genau der Moment, an dem über ein gutes Leben, jenseits von Konsum und immer mehr Konsum, nachzudenken ist. Zum guten Leben aber gehört für mich die Entwicklung aller Sinne, also auch künstlerische Potenziale in sich zu entdecken und zu pflegen, genussvolle Tätigkeiten anzustreben, kurz, sich als Mensch und eben nicht als KonsumentIn zu bejahen.
Die „Vier-in-einem-Perspektive“ verbindet die Bereiche der fürsorgenden Arbeit, des politischen Engagements, der persönlichen Entwicklung und der Erwerbsarbeit, die radikal gekürzt werden soll. Es geht dabei also um eine gerechtere Verteilung von Zeit – und nicht von Arbeit?
Natürlich geht es um eine gerechte Verteilung von Arbeit – d.h. um das Recht auf einen Erwerbsarbeitsplatz, das Recht auf fürsorgende Arbeit, auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten, auf politische Arbeit. Um über diese vier Bereiche als Arbeit zu sprechen und gehört zu werden, braucht es eine Kulturrevolution. Zu fest sitzen die alten Gewohnheiten als Vorstellung in den Köpfen. „Willst Du im Ernst sagen, dass es genauso Arbeit ist, wenn ich zuhause Cello spiele, als wenn ich im Bergwerk arbeite?“, fragte mich eine Mitstreiterin empört. Man hört die Verachtung des Cellospiels als Luxus und erkennt den Blick auf Erwerbsarbeit festgeheftet an vergangene Formen männlicher Lohnarbeit und die damit einhergehende Achtung, dass nur dies zu respektieren sei. Reproduktionsarbeit verwandelt sich unvermittelt ins Windeln wechseln, als stünde hier nicht in Frage, wie Menschen sich menschlich zueinander verhalten. Hier umzudenken ist ein langer Prozess. Er ist notwendig. Einfacher, wenn auch abstrakter scheint die Einigung, dass in jedem Fall um die Verfügung über Zeit zu kämpfen ist – mit dem Ziel der selbstbestimmten Zeit für alle vier Bereiche. Arbeit ist Zeitverwendung. Ausbeutung ist Verfügung über fremde Arbeitskraft und somit Zeit. Die Themen hängen also ineinander.
In Diskussionen über eine Arbeitszeitverkürzung wird sehr schnell die Frage gestellt: Wer soll das bezahlen?
Diese Frage ist an sich ungeheuerlich. Sie fragt vor dem Hintergrund einer so großen Produktivkraftentwicklung, dass nur noch die Hälfte oder weniger der notwendigen Arbeitszeit gebraucht wird, um die gesellschaftlich notwendige Arbeit zu erledigen. Wenn man also die Erwerbsarbeitszeit nicht entsprechend verkürzt, heißt das, man schafft Arbeitslose. Wer zahlt diese? Oder steht hinter der Frage gar die Idee, man sollte die Arbeitslosen verhungern lassen und aus der Gesellschaft rauswerfen – sie „an den Rändern verlieren“, wie Peter Hartz, der Autor der Hartz-IV-Regelung, vorschlug? Mit anderen Worten: Die jetzige Lösung stuft einfach einen Teil der Bevölkerung aufs Existenzminimum und bezahlt nur den anderen Teil, stets weniger übrigens, wenn man nicht zu den ganz Oberen gehört. Aber bezahlt werden muss in jedem Fall. Gerechte Verteilung des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums auf alle setzt eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit voraus.
Bei einem Vortrag in Wien haben Sie gesagt: „Das Vier-in-einem-Projekt setzt ein nach der Herausbildung von geschulten Widerstandsbewegungen und der Bereitstellung von Erkenntnis über die Unmöglichkeit dieses kapitalistischen Projekts.“ Wie könnte eine feministische Bewegung „von unten“ aussehen?
Eine feministische Bewegung kann sich an ganz unterschiedlichen Punkten bilden, an denen das Gewohnte, die alltägliche Unterdrückung nicht länger ertragen wird. Irgendwo, und man kann nicht vorhersagen oder gar planen, wo das geschieht, bricht langer Zorn aus, der Funke springt über, viele schließen sich an, erkennen sich und ihre Belange, stellen die bisherigen Arbeiten hintan und setzen sich in Bewegung. Man kann dies an der vergangenen Frauenbewegung studieren. Es ist wichtig, sich zu erinnern. Die Freiheiten, die in der StudentInnenbewegung erkämpft wurden, galten nicht für die Frauen. So sammelten sie sich, tauschten Erfahrungen aus und erkannten, dass sie alle nicht normal waren, zunächst also gegen Normalität zu streiten war. Ich will damit vieles zugleich sagen: Man kann nicht Bewegung von unten machen. Sie entsteht an allzu großen Widersprüchen, wenn Hoffnung und Fähigkeiten gegen Grautöne und das Nichtvorgesehensein als Mensch in Gesellschaft zusammenstoßen.
Was können wir tun? Mit wir meine ich die geschulten Intellektuellen, die sich der Veränderung von Gesellschaft verschrieben haben und so auch wissen, dass dies keine Tat von einzelnen ist, sondern Bewegung dafür notwendig ist, sie der Stoff ist, aus der sich Neues herausbildet. Wie also können wir, als „organische Intellektuelle“, wie Antonio Gramsci das nennt, der Herausbildung von Bewegung und dann den Bewegungen selbst dienen? Reflektieren wir, was wir tun. Wichtig ist, den üblichen Medien entgegengesetzt, nicht dauernd die Zahlen des Elends durchzubuchstabieren und zu wiederholen. Das lähmt und stärkt Ohnmacht. Wichtig ist es dagegen, überall zu studieren, wo sich Widerstand regt. Es ist erstaunlich, wie viel Bewegung es in der Gesellschaft schon gibt. Dann gilt es, das Vielfältige zusammenzufassen, zu Losungen zu verdichten, eine Sprache zu finden, die eine jede versteht und mit der sie sich gemeint fühlt.
Es wird dies nicht möglich sein, wenn man keine Perspektive hat, keine Vision, wie Gesellschaft anders sein könnte, in der auch Frauen als Menschen entscheidend wären. Als eine solche Utopie begreife ich die Vier-in-einem-Perspektive. Sie ist eine solche Zusammenfassung und Orientierung des schon vorhandenen Protests, setzt die einzelnen Elemente zusammen. In der Zusammenfügung, die empfiehlt, immer alle vier Bereiche zugleich anzurufen, liegt das Neue. Sie ist notwendig, um den Herrschaftsknoten zu erkennen und an seine Entwirrung zu schreiten, der diese Gesellschaft als schlechte und in Krise geratene immer wieder hält. Dieser Knoten ist geknüpft aus der Stellung der Lohnarbeit im Gesamt der Arbeiten, aus der geschlechtsspezifischen Verteilung und gleichzeitigen Marginalisierung der fürsorglichen Arbeit, was auf die Zustimmung der Frauen setzt, auf den Verzicht auf eigene Entfaltung und politische Passivität. An ihm also ist anzusetzen. Es ist nicht vorherzusagen, wie lange es währt, bis sich ganz viele an die Lösung dieses Knotens machen. Aber es ist klar, dass Frauen dabei am entscheidenden Hebel sitzen, weil der Knoten nur mit ihrer Zustimmung hält.
Frauenpolitische Diskussionen drehen sich in Österreich und Deutschland derzeit häufig um Quoten, Kinderbetreuungsplätze und Sorgerecht. Braucht auch die Frauenpolitik mehr Utopien?
Natürlich sind Quoten, Sorgerechtsfragen, Kinderbetreuung ganz wichtige aktuelle Aktionsfelder. Aber sie sind nicht das Ziel, wohin wir aufbrechen wollen. Eine Gesellschaft, die hälftig in Frauen und Männer geteilt ist, aber sonst die gleichen Ungerechtigkeiten und Barbarisches verfolgt wie die unsere, ist nicht unser Ziel. Die Quote ist also Weg, nicht Ziel. Die Betreuungs- und Rechtsfragen müssen geregelt werden, aber unsere Gesellschaft mit Kriegen, Krisen und immer größerer Verwahrlosung von so vielen braucht mehr. Wichtig ist, sich nicht mit „Frauenfragen“ bescheiden zu lassen, sondern das, was als Frauenfrage auftaucht, in eine Menschheitsfrage zu übersetzen und so vom Frauenstandpunkt eine Utopie, eine Perspektive für alle zu entwerfen, deren treibendes Motiv nicht der Gewinn ist, sondern eine fürsorgende, also menschliche Gesellschaft.
Vielen Dank für diesen fundierten und ausführlichen Artikel. Wie wollen wir arbeiten und leben?, das ist eine Frage, die sich Frauen häufiger stellen als Männer – so jedenfalls meine Erfahrung. Ich würde es jedem Menschen gönnen, weniger im klassischen Sinne zu arbeiten (also in einem Vollzeitjob) und mehr Freiraum zu haben für die persönliche Entwicklung. Das könnte ganz nebenbei auch noch zu einer Umverteilung der Arbeit führen, Jobs schaffen und die Menschen ganz allgemein zufriedener machen, weil sie neben dem „Brotjob“ noch Zeit hätten, über sich und die Welt nachzudenken. Beim herkömmlichen Modell – Mann „Familienvater“ (der das Einkommen für eine ganze Familie allein erwirtschaftet, samt Hauskredit und Kindesunterhalt), Mutter „Hausfrau“ ohne eigenes berufliches Standbein -, das immer noch zu oft gefahren wird, ist das nicht möglich.
Danke für das Lob!