Rotherham

R

Im aktuellen „Spiegel“ ist ein ausführlicher Bericht (der mich zu weiteren Recherchen motivierte) aus Rotherham zu lesen, jener Stadt im Norden Englands, in der eine unglaubliche Häufung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder (großteils Mädchen) aufgedeckt wurde. Zwischen 1997 und 2013 wurden mindestens 1.400 Kinder und Jugendliche jahrelang ausgebeutet und gehandelt, vergewaltigt und erpresst. Die Schilderungen der einzelnen Fälle und das Versagen der Behörden treiben einem Tränen der Wut in die Augen.

In den Medien (vor allem den deutschsprachigen) wurde der Fall vor wenigen Wochen häufig auf einen Umstand reduziert: Behörden hätten von den Verbrechen gewusst und sie aus Gründen der political correctness vertuscht. Da es sich bei den Tätern großteils um pakistanische Migranten handelte, wäre die Angst zu groß gewesen, als Rassist_in zu gelten. „Wenn politische Korrektheit Missbrauch ermöglicht„, titelt etwa der Focus online, „Rotherham: Angst vor Rassismusvorwürfen ermöglichte Missbrauch„, schreibt auch der Standard. Wäre organisierte sexualisierte Gewalt für die Täter tatsächlich aus Angst vor Rassismusvorwürfen folgenlos geblieben, so würde diese Perversion von political correctness wohl zu Recht für Fassungslosigkeit in allen Reihen sorgen.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Verkürzung jedoch – wenig überraschend – als falsch. Alexis Jay, Universitätsprofessorin und frühere Sozialarbeiterin, hat im Auftrag der Bezirksverwaltung Rotherham einen unabhängigen Bericht erstellt und dafür Ermittlungsakten und Berichte analysiert und unzählige Interviews mit Involvierten geführt (er steht hier zum Download). Der Bericht macht auf 159 Seiten klar, dass nicht political correctness für das Versagen der Behörden verantwortlich ist, es sind vielmehr die sexistischen, frauenverachtenden und klassistischen Strukturen, gesellschaftliche Bedingungen, die mit dem Begriff der rape culture beschrieben werden.

Eine Analyse der vielen Fälle zeigt, dass die Täter gezielt Beziehungen zu 11- bis 14-jährigen Mädchen aufbauten, viele von ihnen hatten bereits Gewalterfahrungen in der Familie und/oder wurden in sozialen Einrichtungen betreut, es waren oftmals Kinder aus Working-Class-Familien. „Die Beamten hörten die Kinder selten an und stellten, statt zu ermitteln, die Glaubwürdigkeit der Opfer infrage. (…) Da war die Haltung von Polizisten bis hinauf in die Führung: Kindesmissbrauch sei ein Problem des Pöbels, das sich nie lösen lasse“, ist im Spiegel zu lesen.

Im Oktober 2013 verfasste der zuständige Staatsanwalt ein Rundschreiben an die ermittelnden Behörden, in denen falsche Mythen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt erklärt werden. „The victim invited sex by the way they dressed or acted“, „The victim used alcohol or drugs and was therefore sexually available“ und „The victim is in a relationship with the alleged offender and is therefore a willing partner“, ist da zu lesen. Alexis Jay schreibt dazu im Bericht: „All of the above elements have been referred to at some point in historic files we read, usually as reasons given by the Police or the CPS for not pursuing suspected perpetrators.“

Es sind Fälle, in denen die Polizei eine 12-Jährige festnahm, weil sie betrunken war, ihr Vergewaltiger wurde nicht belangt. Hinweise von besorgten Eltern wurden ignoriert, viele Opfer schwiegen aus Scham und Angst. In einigen Fällen wurden Behörden erst bei wiederholten Selbstmordversuchen aktiv. Einzig die Organisation „Risky Business“ wird vielfach positiv hervorgehoben, der Jugendhilfeverein versucht seit den 1990er-Jahren, Kinder und Jugendliche über sexuelle Ausbeutung und mögliche Handlungsstrategien aufzuklären.

Im Zuge des Berichts wurde zudem die Arbeitskultur in verschiedenen Behörden untersucht, auch hier kommen sexistische Strukturen ans Tageslicht. „The Leader of the Council, from 2000 to 2003, agreed that the culture overall was ‚macho‘ and sexist. (…) A colleague was told she ought to wear shorter skirts to meetings and she’d get on better“, ist hier zu lesen. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Kultur innerhalb der Behörden herausgestrichen: „Organisational culture is a powerful force that guides decisions and actions. It has a potent effect on the organisation’s well-being and effectiveness. The Council has a duty to provide effective corporate services. In relation to CSE, the long-term benefit of children will only be served by Council departments working together in a spirit of shared commitment and mutual confidence.“

Woher stammt nun aber die mediale Erzählung, die Angst vor Rassismusvorwürfen hätte die Gewalt „möglich gemacht“? Im Bericht gibt es tatsächlich das Kapitel „Issues of ethnicity“. In der Zusammenfassung ist hier zu lesen: „Within the Council, we found no evidence of children’s social care staff being influenced by concerns about the ethnic origins of suspected perpetrators when dealing with individual child protection cases, including CSE. In the broader organisational context, however, there was a widespread perception that messages conveyed by some senior people in the Council and also the Police, were to ‚downplay‘ the ethnic dimensions of CSE.“ Es gibt etwa folgende Aussage einer Sozialarbeiterin: „She was told not to refer to the ethnic origins of perpetrators when carrying out training.“ Auch von politischen Akteur_innen liegen Ergebnisse vor: „Several councillors interviewed believed that by opening up these issues they could be ‚giving oxygen‘ to racist perspectives that might in turn attract extremist political groups and threaten community cohesion.“ Es gibt zudem Aussagen von (unbeteiligten) Bewohner_innen der Stadt, die vermuteten, die Polizei hätte nicht gehandelt, da es sich um Täter aus der pakistanischen Community handelte. Konkrete Fälle wurden nicht genannt.

Hinzu kommt ein Bericht des UK Muslim Women’s Network, der Folgendes besagt: „It highlighted that Asian girls were being sexually exploited where authorities were failing to identify or support them. They were most vulnerable to men from their own communities who manipulated cultural norms to prevent them from reporting their abuse.“ Der Deputy Children’s Commissioner ergänzt: „One of these myths was that only white girls are victims of sexual exploitation by Asian or Muslim males, as if these men only abuse outside of their own community, driven by hatred and contempt for white females. This belief flies in the face of evidence that shows that those who violate children are most likely to target those who are closest to them and most easily accessible.“

Zusammengefasst gab es also einerseits rassistische Vorurteile, andererseits (Über-)Vorsicht bei einzelnen Handelnden und vermutlich strategische Feigheit bei Lokalpolitiker_innen. Dass diese jedoch die Gewaltdelikte möglich machten, ist völlig aus der Luft gegriffen. Vor allem für konservative Medien sind diese Aspekte jedoch wieder einmal der Anlass, (sexualisierte) Gewalt als „Multikulti“-Problem abzustempeln und die „falsche political corectness“ anzuprangern: „It’s true that racism, even of the inadvertent kind, has — along with sexism and homophobia — been turned into such a heinous crime in the eyes of public-sector functionaries that many would rather turn a blind eye to child rape than risk such accusations“, schreibt etwa der Spectator.

Abermals werden hier (medial) die Augen vor sexistischen Strukturen verschlossen, die Gewalttaten als tragische Einzelfälle bzw. Folgen gescheiterter Integration betrachtet. Ja, in Rotherham waren die Täter großteils Briten mit Migrationsgeschichte, Angehörige der pakistanischen Community, es handelte sich zudem offensichtlich um organisierte Bandenkriminalität. Aber nein, deshalb kann sexualisierte Gewalt nicht zum kulturellen Problem erklärt werden – sexualisierte Gewalt betrifft uns alle. („As has been stated many times before, there is no simple link between race and child sexual exploitation, and across the UK the greatest numbers of perpetrators of CSE are white men.“)

Im Standard schreibt zudem Irene Brickner: „Kinder aus verarmten, zerbrochenen, oft weißen Ex-Arbeiterfamilien, die quer durch England in privat nach dem Billigsdorfer-Prinzip geführte Heime verfrachtet werden, die außer überlasteten Betreuern keinen vertrauenswürdigen Erwachsenen haben, an den sie sich wenden können: Ihnen zu Hilfe zu kommen hätten die ebenfalls knappgehaltenen Sozialbehörden und die Exekutive wohl lange nicht für nötig erachtet. Also wären nicht die Täter durch falsch verstandene Political Correctness geschützt, sondern die Opfer aus sozialem Ressentiment heraus ignoriert worden: Wenn das stimmt, ist dies für Rotherham, England – und vielleicht auch darüber hinaus – eine bittere Erkenntnis.“

Links:Blaming the Rotherham abuse on a fear of being branded a racist is ludicrous“ (Kommentar im Guardian)
Playing the Political Correctness Card in Rotherham“ (Blogbeitrag)

About the author

brigittethe

3 comments

By brigittethe

Neueste Beiträge

Neueste Kommentare

Archive

Kategorien