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Interview: Francis Seeck

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Wie bereits angekündigt starten wir hiermit unsere Interview-Serie zum Thema Klasse/Klassismus, wir freuen uns, dass Francis Seeck die Gesprächsreihe eröffnet!

Wie bist du dazu gekommen, dich mit Klasse/Klassismus auseinanderzusetzen?

Ich verstehe mich als poverty class academic, als Akademiker_in aus einem Armutshintergrund. Klassenunterschiede sind mir schon als Kind aufgefallen, auch wenn ich sie nicht so benennen konnte. Ich bin in Berlin Kreuzberg aufgewachsen und in einen linken Kinderladen gegangen, in dem viele der Kinder aus der Mittelschicht waren. Meine Mutter war alleinerziehend, aus dem Osten ausgereist und wir haben von Hartz 4 gelebt, zeitweise habe ich auch in einer Pflegefamilie gelebt. Mein Vater hatte immer wieder verschiedene Jobs, von Friedhofsgräber über Erntehelfer, aber oft auch keinen. Ich kann mich an einige Klassismuserfahrungen erinnern, die ich bereits als Kind gemacht habe. Zum Beispiel, als ich im Jobcenter bereits in der 10. Klasse dazu genötigt
wurde einen Vermittlungsbogen auszufüllen, obwohl ich Abitur machen wollte. Das werden wir ja sehen, sagte die Sachbearbeiterin skeptisch zu mir. Auch auf dem Kreuzberger Gymnasium wurde uns des öfteren gesagt, dass wir später doch eh von Hartz4 leben werden. Mir fallen auch noch einige andere Erlebnisse ein, für die ein Interview nun nicht der richtige Raum ist.

Mir ist relativ früh aufgefallen, das es bei meinen Freund_innen, deren Eltern Ärzte und Lehrer_innen waren, zuhause anders aussah und die auch ein anderes Leben hatten. Gleichzeitig spielte Bildung und Bücher lesen für meine linken Eltern immer eine große Rolle, meine Mutter studierte später, mein Vater las viel – auch ohne formelle Bildungsabschlüsse. Mir fiel der Einstieg ins Studium wahrscheinlich auch deswegen relativ leicht. Heute schreibe ich meine Doktorarbeit. Ich habe mich früh in verschiedenen Klassenkontexten bewegt und Klassenreisen hinter mir, die teilweise auch mit Unwohlgefühlen verbunden waren.

Ich war dann schon früh in linken und queer-feministischen Räumen aktiv, wo häufig wenig über Klassenunterschiede geredet wird. Oft ziehen sich Aktivist_innen aus Mittelschichts-Elternhäusern extra abgerissene Klamotten an, um ihren alternativen Lebensstil zu betonen. Sie betonen, wie prekär sie doch seien und verschweigen Erbschaften und Sicherheitsnetze im Hintergrund. Als ich zum ersten Mal mit einem Klassismus-Workshop in Berührung gekommen bin war das für mich eine sehr einprägsame Erfahrung. Es war bereichernd mich mit anderen Menschen aus ähnlichen Klassenhintergründen auszutauschen über Klassismuserfahrungen und zu verstehen, dass meine Erfahrungen etwas mit Machtverhältnissen und Strukturen zu tun haben. Ich war auch in Kälteschutzeinrichtungen für wohnungslose Menschen aktiv, in denen ich Kontakt mit der Gewalt bekommen habe, denen wohnungslose Menschen ausgesetzt sind.

Gibt es Texte, die dich besonders geprägt haben?

Ich bin relativ früh auf den Blog Class Matters von Clara Rosa gestoßen. Das ist ein Empowerment-Blog für Menschen die Klassismus erfahren (haben). Ich konnte mich in vielen der Erfahrungen wiederfinden. http://clararosa.blogsport.de/ Auch das Hörspiel „Mit geballter Faust in der Tasche – Eine Lesung über Normen der Mittelschicht in der Linken“ fand ich ziemlich gut. Ein super Übersichtsbuch finde ich immer noch „Klassismus. Eine Einführung“ von Andreas Kemper und Heile Weinbach. In den letzten Monaten hat mich das Buch „Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag. Antiklassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD“ von Julia Roßhart sehr begeistert. In dem Buch macht sie klassismuskritischen Aktivismus sichtbar, der oft vergessen wird. Auf meiner Leseliste steht seit langem „Where we stand. Class Matters“ von bell hooks.

Welche Projekte hast du selbst schon umgesetzt?

Ich organisiere selber Workshops und Trainings zu dem Thema Klassismus in linken und queeren Räumen. Thema bei den Trainings sind vor allem die Biografien und Klassenhintergründe- und erfahrungen der Teilnehmer_innen. Da geht es zum Beispiel um Klassismuserfahrungen, die Leute in linken und queer-feministischen Bewegungen machen. Es geht um Klassenreisen, die teilweise zur Entfremdung mit der eigenen Herkunftsfamilie führen. Es geht auch um einen Austausch von Menschen, die in Pflegefamilien oder Heimen ausgewachsen sind. Es geht darum die individuellen Klassismuserfahrungen als politisch zu begreifen und antiklassistische Praxen und Empowerment-Räume aufzubauen. Ich habe auch eine queer-feministische Trauergruppe mit aufgebaut, in der Trauer in Verbindung mit Klassismus ein großes Thema ist. Ich bin außerdem mit Andreas Kemper und Tanja Abou bei dem »Institut für Klassismusforschung« aktiv. https://klassismusforschung.wordpress.com
Zudem bin ich bei den Careleavern aktiv, ein Netzwerk für Menschen, die als Kinder und Jugendliche in Heimen oder Pflegefamilien gewohnt haben. https://www.careleaver.de

Warum denkst du ist es wichtig, sich mit Klasse/Klassismus zu beschäftigen und siehst
du diesbezüglich Leerstellen in linken/feministischen Bewegungen?

Es wird sich viel zu wenig mit Klassismus beschäftigt, auch in queer-feministischen und linken Kontexten. Oft wird so getan, als wären wir alle gleich und es werden automatisch ein ähnlicher Klassenhintergrund und ähnliche Klassenerfahrungen angenommen. Klassenprivilegien werden oft nicht benannt. Mittelschichts-Linke erwähnen dann mal im Nebensatz, dass sie ja drei Häuser erben werden, diese aber nicht gebrauchen können. Es wird viel Wert auf Szene-Codes gelegt („alternative Klamotten“) etc., sich abzugrenzen, und der eigene Klassenhintergrund wird so oft verschleiert. In den Empowerment-Räumen für Menschen mit Armuts- oder Arbeiter_innenhintergrund erlebe ich auch, wie schwer es ist in queer-feministischen Kontexten über Klasse und Klassismus zu sprechen. Dies ist oft durch Scham und Vereinzelung geprägt und dem Angst vor voyeuristischen Kommentaren. Außerdem ist die linke und feministische, queere Bewegung oft sehr akademisch geprägt und schriftliches Wissen wird mehr geschätzt als andere Formen des Wissens. Ich finde es auch wichtig, dass sich queer-feministische Bewegungen gegen Hartz 4 Reformen, Sozialabbau und neoliberale Politik stellen, da auch viele queere Menschen von Armut und Klassismus betroffen sind.

Warum arbeitest du mit dem Klassismus-Begriff?

Ich finde den Klassismus-Begriff sinnvoll. Klassismus bedeutet die Diskriminierung aufgrund deiner Klassenherkunft oder sozialen Position. Diese Abwertung und Ausgrenzung richtet sich z.B. gegen Erwerbslose, Arme, Wohnungslose, Pflegekinder, Heimkinder und viele andere Menschen. Der Begriff ist verwandt mit den Begriffen Sexismus, Rassismus oder Transfeindlichkeit. Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit Kapitalismus/Neoliberalismus und Klassismus als Diskriminierungsform zusammengedacht werden müssen. So ist ein Glaubenssatz des Neoliberalismus, dass jede Person aufsteigen kann, wenn sie sich nur genug anstrengt und dass Armut selbstverschuldet sei. Diese Ideen müssen angefochten werden. Klassismus lässt sich nicht von Rassismus und Sexismus trennen, das wird schon dann deutlich, wenn man sich anschaut, wer von Armut betroffen ist und wer welche Arbeit verrichtet.

Du hast ein Buch geschrieben, in dem du dich mit der Bestattungspraxis in Deutschland auseinandersetzt. Wie bist du auf dieses Thema gestoßen und worum geht es konkret in dem Buch?

In dem Buch geht es um die Frage: Wer ist betrauerbar? Klassistische Ausgrenzung und Marginalisierung hören auch nach dem Tod nicht auf. Die Bestattungspraxis in Deutschland ist von Machtverhältnissen, insbesondere von Klassismus und Heteronormativität, geprägt. Die Schere zwischen den Menschen, die sich eine teure und individuelle Bestattung leisten können und jenen, denen das Geld für die Beerdigung fehlt, geht zunehmend auseinander. Immer mehr Menschen werden anonym von Gesundheits- und Ordnungsämtern bestattet. Mit dem Thema bin ich durch den Tod meines Vaters in Kontakt gekommen, sowie durch mein Engagement bei einer Kälteschutzeinrichtung für Wohnungslose Menschen. In dem Buch ‚Recht auf Trauer‘ richte ich meinen Blick auf die historische Kontinuität sozialer Ausgrenzung auf Friedhöfen sowie auf die aktuellen Zustände. Ich zeige auch verschiedene Formen des Widerstands, die sich gegen das klassistische und sozialdarwinistische Bestattungssystem richten, auf. Sowohl meine eigene Trauergeschichte sowie verschiedene Lebensgeschichten anonym bestatteter Menschen haben ihren Platz.

Wo findet man Infos über deine Projekte/Texte…?

https://www.edition-assemblage.de/recht-auf-trauer/
www.francisseeck.net
https://klassismusforschung.wordpress.com

Das Schweigen beenden

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Dieses Interview habe ich bereits 2014 für die an.schläge geführt. Nachdem meiner Ansicht nach wichtige Gedanken darin enthalten sind, stelle ich es hier online.

Suizid verhindern

Hanna Caspaar vom Verein „Verwaiste Eltern“ im Gespräch über Möglichkeiten und Grenzen der Suizidprävention.

Was versteht man unter Suizidprävention?

Suizidprävention heißt im Grunde, Menschen in Krisen dort abzuholen, wo sie sind. Deshalb hat unser Verein „Verwaiste Eltern“ einen nachgehenden Ansatz, wir machen auch Hausbesuche. Aufsuchende psychosoziale Arbeit wäre in der Suizidprävention allgemein ganz wichtig, wird aber nur in wenigen Ansätzen schon verwirklicht. Das Netzwerk GO ON in der Steiermark – wo es die höchste Suizidrate Österreichs gibt – ist so ein Beispiel. Menschen, die einen Suizid planen, gehen nämlich meistens nicht mehr in eine Beratungsstelle. Am besten funktioniert Suizidprävention, wenn man Peers schult, etwa in den Schulen, die dann besonders aufmerksam sind und denen sich Gefährdete anvertrauen können. Dasselbe wäre im Erwerbsarbeitsleben notwendig, dort haben wir noch viel nachzuholen. Besonders schlecht erreichen wir ältere Männer am Land, wo sehr viele Suizide passieren.  Auch in den Altersheimen ist Suizidprävention noch zu wenig gut ausgebaut. Eine weitere Möglichkeit sind HausärztInnen, hier tut sich in Österreich bezüglich Schulungen schon einiges. Aber die Praxen sind meist voll, es gibt sehr wenig Zeit für längere Gespräche, um Probleme abseits von körperlichen Schmerzen zu erkennen und eine mögliche Krisenintervention einzuleiten.

Wie beurteilen Sie die Infrastruktur des österreichischen Gesundheitssystems – wird genügend Wert auf Suizidprävention gelegt?

Nein, das finde ich absolut nicht. Im Vergleich gibt es mehr Suizidtote als Tote durch Verkehrsunfälle. Und seit Jahrzehnten bemüht sich die Politik Verkehrsunfälle zu verhindern, dafür werden Milliarden ausgegeben – um Suizid zu verringern, um Menschen die Hilfe, die sie brauchen, zukommen zu lassen, nur ein Bruchteil davon. Zudem ist Suizid ein Tabuthema, er wird kollektiv verdrängt – das hat in Österreich eine lange Geschichte. Insgesamt gibt es ein umfassendes Fachwissen bei ExpertInnen, aber es wird noch zu wenig weitergegeben. Es ist ganz wichtig, Fachwissen zu übersetzen, eine Sprache zu finden, in der sich Menschen in der Krise auch wiederfinden. Diese Arbeit machen wir kleineren Initiativen schon jahrzehntelang in begrenztem Ausmaß.

Wie internationale Studien zeigen, ist das Suizidrisiko bei LGBTQ-Personen besonders hoch.

Ja, das ist leider richtig, da diese Bevölkerungsgruppen immer noch diskriminiert werden. Hier tut sich zwar einiges an Öffnung, aber die Diskriminierung wird immer subtiler. Das weitaus höhere Suizidrisiko hat auch mit Normalitätsbegriffen zu tun, mit normativen Rollenzwängen. All das führt zu Identitätskrisen, zu Benachteiligung, zu Isolation, weil man sich nicht öffnen kann – wesentliche Risikofaktoren.

Was kann man tun, wenn man in seinem Umfeld Suizid-Absichten bei einem Menschen vermutet?

Es gibt eine Kurzformel: Zunächst diesen Menschen offen ansprechen, auch wenn er_sie abweisend ist, nicht alleine lassen, Kontakt anbieten und Kontakt halten. Und das möglichst auf eine unaufdringliche, respektierende, liebevolle Art. Es geht darum, zu sagen: Es ist mir wichtig, dass du lebst, lass uns gemeinsam etwas finden, ich begleite dich. Natürlich müssen auch Grenzen akzeptiert werden, es ist oft eine schwierige Gratwanderung. Dann geht es auch darum, professionelle Hilfe zu vermitteln. Für den Notfall gibt es natürlich immer auch Kliniken, nur muss dort eine langfristige Therapie beginnen. Viele Suizide passieren nach der Entlassung. Es ist letztendlich nicht möglich, jeden Suizid zu verhindern, aber Kontakt, Nähe, Halt, Trost sind zentrale Faktoren. „Beende dein Schweigen und nicht dein Leben“ ist einer unserer Slogans. Gerade auch in der Literatur wird Suizid immer wieder als „Freitod“ beschönigt. Wenn ich Machtlosigkeit nicht verarbeiten kann, stelle ich so wieder Autonomie her. Es ist ein Selbstheilungsversuch in der Machtlosigkeit, aber es geht darum, Selbstwirksamkeit im Leben herzustellen – mit der Hilfe von anderen. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist ein tödlicher Satz.

Link: Verwaiste Eltern

„Von internationaler Solidarit\u00e4t sind wir weit entfernt“

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Dieses Interview ist in der November-Ausgabe der an.schläge erschienen.

Mit dem Übergehen der in den eigenen Parteistatuten verankerten Frauenquote beschwor die SPÖ den Unmut engagierter Feminist*innen herauf. Irmgard Schmidleithner, ehemalige ÖGB-Frauenvorsitzende, spricht im Interview über persönliche Enttäuschungen und politische Leerstellen.

Sie waren bis 1999 ÖGB-Frauenchefin und haben sich seither immer wieder kritisch zu frauenpolitischen Fragen zu Wort gemeldet. Hat Sie das Vorgehen der SPÖ bei der Nachbesetzung, bei der Sonja Ablinger trotz Frauenquote übergangen wurde, überrascht?

Nein, aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit der Partei, der ich seit fünfzig Jahren angehöre, habe ich diese Vorgangsweise befürchtet. Daher habe ich vor der entsprechenden Sitzung zwei E-Mails an den Landesparteivorsitzenden und die beiden Landesgeschäftsführer geschickt, in denen ich auf den entsprechenden Paragrafen hingewiesen habe. Beide Mails blieben unbeantwortet.

In einem Kommentar auf der Website von Sonja Ablinger kündigen Sie persönliche Protestmaßnahmen an und sprechen von notwendigen konsequenten Maßnahmen. Sind die SPÖ-Frauen zu wenig rebellisch?

Persönlich habe ich meine Konsequenzen bereits gezogen und meinen Mitgliedsbeitrag dem Verein „Frauen in Not“ überwiesen. Zu der Frage nach dem Rebellischen: Viele der SPÖ-Frauen sind zu wenig konsequent. Ganz an der Spitze die SPÖ-Bundesfrauenvorsitzende und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek. Sie hat noch vor der Beschlussfassung eine Mail an den Landesparteivorsitzenden geschickt. In dieser Mail machte sie ihn auf den entsprechenden Paragrafen aufmerksam. Bei der Sitzung des SPÖ-Bundesparteivorstands stimmte jedoch auch sie für Walter Schopf – obwohl sie genau wusste, dass sie damit eine Frauendiskriminierung begeht. Eine Tatsache, die bei ihren Vorgängerinnen unvorstellbar gewesen wäre.

Die Frauenagenden waren zuletzt im Bundeskanzleramt angesiedelt, nun ist Gabriele Heinisch-Hosek Bildungsministerin. Bleibt da noch genug Zeit für Frauenpolitik?

Johanna Dohnal hat sich immer geweigert, eine zusätzliche Aufgabe zur Frauenpolitik anzunehmen. Sie war einfach der Meinung, dass jedes weitere Angebot nur dazu führen würde, keine oder nur wenig – zu wenig – Zeit für die Durchsetzung von Fraueninteressen zu haben. Und meiner Meinung nach hat sie damit auch Recht gehabt, wie die derzeitige Situation zeigt. Gerade der Bildungsbereich ist so umfassend, dass auch bei bestem Bemühen die Frauen auf der Strecke bleiben.

Frauenpolitische Themen stehen derzeit bei keiner im Parlament vertretenen Partei hoch im Kurs. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Es gibt, wie Sie in Ihrer Frage schon formulieren, nicht das Frauenproblem bzw. die Frauenforderung, sondern die unterschiedlichsten Probleme. Das sind zunehmender Arbeitsdruck, Angst um den Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, immer weniger leistbare Wohnungen, zunehmende Armut und vieles mehr. Viele von den Betroffenen haben weder den Mut noch die Zeit, ihre Anliegen zu formulieren und die politische Umsetzung der daraus entstehenden Forderungen zu verlangen. Dies alles wäre auch im Besonderen der Aufgabenbereich der Frauenministerin – nicht umsonst haben Frauen lange dafür gekämpft, dass aus dem Frauenstaatssekretariat ein Ministerium wird. Gerade die Erfahrungen in den letzten Wochen haben mir gezeigt, dass der Feminismus in den Parteien weitgehend tot ist. Es gibt noch ein paar Feministinnen, doch damit hat es sich. Deshalb habe ich keine Hoffnung, dass es hier entsprechende Maßnahmen geben wird. Es wird so wie Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre wieder einer autonomen Frauenbewegung bedürfen, um gravierende Bewusstseinsarbeit und ein Wiederbeleben zu erreichen.

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Protestaktion vor dem Burgtheater – Foto: Bettina Frenzel

Im Parteiprogramm der SPÖ finden sich nach wie vor sozialistische Ideale wie der Wunsch nach einer „Gesellschaft ohne Privilegien und Herrschaftsverhältnisse“, beim Maiaufmarsch wird noch immer die „Internationale“ gesungen. Die letzten beiden sozialdemokratischen Kanzler haben hingegen nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt für den VW-Konzern gearbeitet (Klima) und waren als Berater für die Banken- und Immobilienbranche tätig (Gusenbauer). Wie glaubwürdig ist die SPÖ noch als Partei der ArbeiterInnenklasse?

Männer wie Klima und Gusenbauer (wobei ich von ihm besonders enttäuscht bin) verursachen natürlich Verärgerung und Enttäuschung bei sozialdemokratischen WählerInnen. Doch wenn die Sozialdemokratie ihre Werte auch entsprechend lebt, sinkt wegen zwei Personen die Glaubwürdigkeit nicht. Diese Werte sind für mich unter anderem Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Das heißt Abbau von Armut, Schaffung von sozialem Wohnraum, Absicherung von prekären Arbeitsverhältnissen (wenn es schon nicht mehr gelingt sie zu verhindern) und vieles mehr. Ich will damit nicht sagen, dass nichts geschieht. Aber es ist zu wenig, bzw. bekämpfen manche in dieser Sozialdemokratie nicht die Armut, sondern die Armen – wenn ich etwa an das Bettlergesetz in Oberösterreich denke. Leider sind es nicht nur der Bundesparteivorsitzende, sondern auch viele Spitzenfunktionäre, die sich besonders an der Meinung der kleinformatigen Tageszeitungen orientieren. Und das Ergebnis dieses Meinungsbildes ist nicht nur seh-, sondern auch spürbar. Leider zu Ungunsten der sozial Schwächeren. Von internationaler Solidarität sind wir da überhaupt weit entfernt.

Frauenpolitikerinnen beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit denselben Themen. Sie haben 1980 begonnen, für den ÖGB zu arbeiten. In welchen Bereichen sind rückblickend die größten Erfolge zu verbuchen?

Als Gewerkschaftspolitikerin möchte ich noch ein weiteres Jahr zurückgehen. Ich war Lohnbuchhalterin und habe so Monat für Monat gesehen, um wie viel Frauen bei gleicher Arbeit und gleicher Einstufung weniger verdienten. Es gab nämlich in den Kollektivverträgen nochmals die Unterteilung in Frauen und Männerlöhne. Hier liegt auch eine Ursache, warum es noch immer die sogenannte Lohnschere gibt. Ich habe mich schon damals als Betriebsrätin bei Gewerkschaftskonferenzen gegen diese Diskriminierung gewehrt und eine gesetzliche Änderung verlangt bzw. entsprechende Anträge unterstützt. Erst als am 1. Juni 1979 das Gleichbehandlungsgesetz in Kraft trat, verschwand diese Ungleichbehandlung aus den Kollektivverträgen. Zehn Jahre später folgte die Einführung des Elternkarenzurlaubes und somit die gesetzliche Möglichkeit zur Väterkarenz.

1990 wurde dann in einer Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes festgestellt, dass das unterschiedliche Pensionsalter von Männern und Frauen verfassungswidrig ist. Allerdings wurde auch festgehalten, dass eine (Gesetzes-)Änderung nur längerfristig erfolgen kann und dass entsprechende Gleichstellungsmaßnahmen zu treffen sind. Daraufhin wurde in Zusammenarbeit von ÖGB-Frauen und Frauenministerin Dohnal ein entsprechendes Forderungspaket erstellt, wovon dann Verbesserungen (Gleichbehandlungs-, Mutterschutz-, Arbeitszeitgesetz, Pflegefreistellung) bzw. neue gesetzliche Regelungen wie zum Beispiel sozialrechtliche Absicherung der geringfügig Beschäftigten sowie deren Gleichstellung im Arbeitsrecht erreicht wurden.

Eine aktuelle Umfrage sieht SPÖ, ÖVP und FPÖ gleichauf bei jeweils 25 bzw. 26 Prozent. Was bräuchte die SPÖ Ihrer Meinung nach, um aus dem Tief zu kommen?

Die SPÖ müsste ganz einfach das leben, was im Parteiprogramm steht.

Frauen an technischen Universitäten – Role Models verzweifelt gesucht

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Dieses Interview mit Brigitte Ratzer, Leiterin der Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies der TU Wien, ist in der Oktober-Ausgabe der an.schläge erschienen.

Der Frauenförderungsplan der Technischen Universität Wien verfolgt u.a. das Ziel, den Frauenanteil in den Studienrichtungen, in denen diese unterrepräsentiert sind, zu erhöhen. Um das zu erreichen, setzen die Maßnahmen bereits in der Schule bei den Mädchen an. An welche Altersgruppen richten Sie sich?

Die Maßnahmen, die wir setzen, greifen ab zehn Jahren, wir bieten Sommerworkshops für die Zielgruppen 10 bis 14 und 15 bis 17 an. Wir adressieren auch Maturantinnen direkt, zum Beispiel im Rahmen von „FIT – Frauen in die Technik“. Grundsätzlich ist aber zu all diesen Maßnahmen zu sagen: Es handelt sich hierbei um ein Instrument, das bei ein paar Wenigen ein bisschen was bewirken kann – aber es kann mit Sicherheit nicht das Problem lösen. Die Botschaft, dass Burschen technisch begabt sind und Mädchen nicht – und Frauen erst recht nicht –, empfangen Menschen, seit sie auf der Welt sind, und zwar tagtäglich. Ganz offen oder subtil, über die Massenmedien und über alltägliche Beobachtungen im Umfeld. Wir setzen im Rahmen der Frauen- und Mädchenförderung lediglich punktuelle Gegenerfahrungen. Wir zeigen Role Models und ermöglichen die Erfahrung, „aha, das kann ich auch“ oder „das macht Spaß, das interessiert mich“. Es ist ein Reagieren auf gesellschaftliche Umstände, die sich als solche ändern müssen, damit sich wirklich nachhaltig etwas tut.

Liegt es also an den gesellschaftlichen Umständen, dass sich trotz verschiedener Förderprogramme in Österreich sehr wenig getan hat? Die Technischen Universitäten sind nach wie vor männlich dominiert.

Ich sehe zwei Gründe: Einerseits die Dauerbotschaft, dass Mädchen und Technik nichts miteinander zu tun haben würden. Andererseits handelt es sich zugleich aber auch um eine Entscheidung der Mädchen gegen die Technik. Dieses Nichtinteresse an Technik bei Mädchen und Frauen, wie es sich jetzt darstellt, bedeutet ja auch: Das will ich so nicht. Schließlich handelt es sich um ein von Männern für Männer veranstaltetes Unternehmen, angefangen von der Art und Weise, wie wir uns mit Technik auseinandersetzen bis hin zu den Produkten, die wir erzeugen – das alles hat einen entsprechenden Bias. Wir sind zum Beispiel an der TU Wien Weltmeister im Roboterfußball, wir haben ein „TU Racing Car“. Man sieht also schon an den Artefakten, die wir prominent nach außen stellen, welche Handschrift das trägt. Natürlich passieren auch andere Dinge bei uns im Haus, aber die Gewichtung und die Sichtbarkeit sagen viel aus. Man kann nicht einfach sagen, „Okay, offensichtlich interessiert das Mädchen oder junge Frauen wesentlich weniger als Männer, was wir hier zu bieten haben.“ Man muss den Schritt machen, zu sagen, es liegt nicht nur an den Mädchen, es liegt auch an der Technik.

An der TU Wien ist das Geschlechterverhältnis in den Studienrichtungen Technische Chemie und Technische Mathematik aktuell viel ausgeglichener als etwa in den Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik. Woran liegt das?

An den Zuschreibungen. Erstens haben Sie in den Studienrichtungen Maschinenbau und Elektrotechnik viele Studierende, die aus der HTL kommen, und dort sind ja auch überwiegend Burschen zu finden. Zusätzlich gibt es in den Schulen eine Hierarchisierung, die sich bis zu uns an der Universität fortpflanzt. Chemie ist da eine weichere Angelegenheit, es werden sogar Scherze gemacht, dass Chemie etwas mit Kochen zu tun hat. Auch Mathematik hat bei den Frauen mehr Tradition, und es einfacher, draufzukommen, dass man gut in Mathematik ist. Dann folgt bei uns schon relativ weit abgeschlagen die Physik. In der Technischen Chemie haben wir rund vierzig Prozent Frauenanteil, in der Technischen Mathematik sind es über dreißig Prozent, die Technische Physik hat siebzehn. Maschinenbau und Elektrotechnik haben knappe zehn Prozent Frauenanteil, ein Phänomen, das uns seit vielen Jahren konstant begleitet. Außerdem hat sich bei genauerer Betrachtung innerhalb des Frauenanteils einiges verschoben: Zwischen 35 und vierzig Prozent haben keine österreichische Staatsbürgerschaft, zwei Drittel davon kommen aus dem Nicht-EU-Ausland. Würden sie nur die ÖsterreicherInnen vergleichen, würde es mit dem Geschlechterverhältnis noch schlechter aussehen.

Was ist das Spezifische an der österreichischen Situation? Warum sind in einigen ost- und südeuropäischen Ländern und in Skandinavien wesentlich mehr Frauen in technischen Studienrichtungen zu finden?

Es ist das sehr konservative Frauenbild in Österreich, würde ich sagen. Im internationalen Vergleich ist der deutschsprachige Gürtel, also Österreich, Deutschland und die Schweiz, das absolute Schlusslicht in der Statistik. Das hat offensichtlich mit großräumigen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Geschlechterformationen zu tun, aber zum Teil auch mit dem Prestige, das diese Fächer haben. In Spanien und Portugal studieren etwa wesentlich mehr Frauen ingenieurwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer, diese besitzen dort einfach kein Prestige. Es ist nicht ganz so, also würde man bei uns Literaturwissenschaft studieren, aber es ist ähnlich. Auch in den arabischen Staaten gibt es einen überproportional hohen Frauenanteil in den technischen Fächern, die dort ebenfalls überhaupt kein Prestige haben.

Mädchenförderprogramme arbeiten zum Teil mit Geschlechterstereotypen, um Mädchen „in ihrer Lebenswelt abzuholen“. Was halten Sie von diesem Ansatz?

Das ist eine schwierige Angelegenheit. Die Strategien, um eine Zielgruppe anzusprechen, sollten so vielfältig sein wie die Zielgruppe, die man damit erreichen will. Die Gefahr, Stereotype weiter zu verstärken, besteht immer, wenn wir auf sie zurückgreifen. Es gab ja vor Kurzem die Kampagne der Europäischen Kommission „Science, it’s a girl thing“, die fand ich furchtbar. Ich beobachte aber, dass diese extrem stereotypen Zugänge abnehmen und sich langsam dahingehend ein Diversitätsverständnis durchsetzt, dass eben nicht alle gleich sind und die Rosa-Fraktion nur ein kleiner Teil ist.

Frauen stellen ein wichtiges Potenzial für die Wirtschaft dar – das ist in vielen Broschüren zu „Frauen in die Technik“ zu lesen. Inwiefern stehen wirtschaftliche Interessen hinter den Förderprogrammen?

Im Moment zu 99 Prozent, würde ich sagen. Es ist ja sehr spannend, dass man es jahrzehntelang mit dem Gerechtigkeitsargument versucht hat und damit nicht vom Fleck gekommen ist. Dann kam auf einmal die Geschichte mit dem Fachkräftemangel und den fehlenden Frauen. Im nächsten Schritt hieß es dann, was unserer Wirtschaft denn alles verloren ginge und wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit leiden würde, wenn nicht genügend Frauen da sind. Das mag zum Teil schon stimmen. Auf jeden Fall ist es aber das Argument, das dazu führt, dass man Geld in die Hand nimmt und Initiativen startet.

Derzeit gibt es viele europäische KollegInnen, die versuchen, ein drittes Argument zu lancieren: jenes der Qualität. Also dass Technik besser wird, im Sinne von brauchbarer und nützlicher für mehr Menschen. Ich verwende es, weil ich verstanden habe, dass man über Gerechtigkeit nicht reden kann, und weil ich das Wirtschaftsargument nicht mag. Und ich komme nicht umhin zu beobachten, dass auch feministisch gesinnte Kolleginnen sehr heftig Gebrauch machen vom Argument des liegengebliebenen Potenzials für die Wirtschaft, weil man damit Gelder lukrieren kann. Das halte ich persönlich für eine gefährliche Liaison. Es gibt da einen sehr guten Aufsatz von der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser, die diese unglückliche Verquickung von Feminismus und Kapitalismus analysiert.

Wie erleben Sie die Strukturen an der TU Wien – stoßen Sie in Ihrer Funktion als Leiterin der Frauenförderungsstelle auf Widerstand?

In der Zeit bis zum Rektoratswechsel vor zwei Jahren gab es eine respektvolle Duldung meines Engagements. Verständnis für Inhalte war aber nicht unbedingt da, es war mehr so, „die Frauen sollen etwas in ihrer Ecke des Hofes machen und Kurse und Mentoring anbieten“, was strukturell aber natürlich nichts bewirkt. Mit dem neuen Rektorat hat sich dann doch etwas geändert, es wurde eine Vizerektorin geholt, die viel vom Thema Frauenförderung versteht und sich auch tatsächlich dafür einsetzt. Das heißt zwar nicht, dass viele der älteren und jüngeren Herren im Haus nun Feministen wären, es wird eher versucht, das Thema großflächig zu ignorieren. Viele wissen gerade einmal, dass meine Stelle existiert. Aber es wird besser. Und meine Arbeit ist unglaublich spannend.

Brigitte Ratzer hat Technische Chemie studiert und ist seit 2005 Leiterin der Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies der TU Wien.

„Feminismus kann niemals Lifestyle sein“

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Dieses Interview mit der feministischen Ökonomin Gabriele Michalitsch ist in der September-Ausgabe der an.schläge erschienen. 

Heute ist oft von einem „neuen Feminismus“ die Rede, der die „alte“ Frauenbewegung überwunden habe. Was verbinden Sie mit dem Begriff des „neuen Feminismus“?

Was soll denn ein „neuer“ Feminismus sein?

Etwa ein Feminismus, der behauptet, mit statt gegen Männer zu arbeiten, der Individualismus und Lifestyle-Fragen betont.

Feminismus kann niemals Lifestyle sein, Feminismus ist immer politisch. Wenn die Medien eine solche Diskussion befeuern, ist das eine Form von Antifeminismus und der Versuch, den Begriff Feminismus zu vereinnahmen, ihm seine politische Relevanz abzusprechen. Feminismus war zudem nie männerfeindlich, er wurde immer auch von Männern mitgetragen. Wenn, dann wendet er sich gegen bestimmte Konzeptionen von Männlichkeit – wie auch Weiblichkeit. Wäre dieser angeblich neue Feminismus nicht Gegenstand öffentlicher Debatten, müssten wir uns erst gar nicht damit auseinandersetzen – in meinen Augen ist das eine antifeministische Strategie.

Mitunter bezeichnen sich auch konservative Politikerinnen als Feministinnen, die thematisch auf Karriereförderung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie setzen.

Wenn man trotz Kindern Karriere macht, ist das Feminismus?

Diese Frauen verwenden zumindest den Feminismus-Begriff und füllen ihn mit neuen Inhalten. Da stellt sich die Frage: Brauchen wir einen neuen Begriff, um ihn von solchen Definitionen abzugrenzen?

Nein, vielmehr müssen wir ihn verteidigen gegen solche Aushöhlungsversuche. Wenn Feminismus auf Karriere mit Kindern reduziert wird, ist das das Ende des Feminismus.

Schon seit längerem kritisieren feministische Stimmen, dass die Analyse sozialer und ökonomischer Verhältnisse zugunsten Fragen von Identität und Repräsentation verdrängt wurde. Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Ja, das war in den vergangenen Jahrzehnten sicher der Fall. Es hat in den Geistes- und Sozialwissenschaften den „cultural“ bzw. den „linguistic turn“ gegeben. Das hat sich auch im Kontext feministischer Wissenschaften artikuliert, das hat natürlich mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun und spiegelt die politischen Konjunkturen des Denkens wider. Ich meine aber, dass zurzeit die kritische Analyse eine starke Re-Ökonomisierung erfährt. Angesichts der Krise hat es hier doch eine deutliche Diskursverschiebung gegeben.

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„Frauen sitzen am entscheidenden Hebel“

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Für die September-Ausgabe der an.schläge habe ich Frigga Haug zum Schwerpunkt „Wie wollen wir arbeiten und leben?“ interviewt. 

Die deutsche Soziologin und Philosophin Frigga Haug denkt schon seit Jahren über eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen nach – „eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist“.

In Ihrem Buch „Die Vier-in-einem-Perspektive“ geht es u.a. um die Entwicklung der menschlichen Sinne und der Kultur. Dürfen wir in Zeiten von Finanz- und Staatsschuldenkrise über solche Dinge nachdenken?

Die große Krise trifft die einzelnen ja nicht unmittelbar in der Form der Staatsschuld oder des Bankencrashs, sondern anders: als Bedrohung von Arbeitslosigkeit und Armut, als Zweifel an der Planbarkeit des Lebens. Kurz: Die Krise nötigt auch zur Besinnung auf den Sinn des Lebens, die eigene Stellung in der Gesellschaft, auf nützliches Tun. Dies ist ja genau der Moment, an dem über ein gutes Leben, jenseits von Konsum und immer mehr Konsum, nachzudenken ist. Zum guten Leben aber gehört für mich die Entwicklung aller Sinne, also auch künstlerische Potenziale in sich zu entdecken und zu pflegen, genussvolle Tätigkeiten anzustreben, kurz, sich als Mensch und eben nicht als KonsumentIn zu bejahen.

Die „Vier-in-einem-Perspektive“ verbindet die Bereiche der fürsorgenden Arbeit, des politischen Engagements, der persönlichen Entwicklung und der Erwerbsarbeit, die radikal gekürzt werden soll. Es geht dabei also um eine gerechtere Verteilung von Zeit – und nicht von Arbeit?

Natürlich geht es um eine gerechte Verteilung von Arbeit – d.h. um das Recht auf einen Erwerbsarbeitsplatz, das Recht auf fürsorgende Arbeit, auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten, auf politische Arbeit. Um über diese vier Bereiche als Arbeit zu sprechen und gehört zu werden, braucht es eine Kulturrevolution. Zu fest sitzen die alten Gewohnheiten als Vorstellung in den Köpfen. „Willst Du im Ernst sagen, dass es genauso Arbeit ist, wenn ich zuhause Cello spiele, als wenn ich im Bergwerk arbeite?“, fragte mich eine Mitstreiterin empört. Man hört die Verachtung des Cellospiels als Luxus und erkennt den Blick auf Erwerbsarbeit festgeheftet an vergangene Formen männlicher Lohnarbeit und die damit einhergehende Achtung, dass nur dies zu respektieren sei. Reproduktionsarbeit verwandelt sich unvermittelt ins Windeln wechseln, als stünde hier nicht in Frage, wie Menschen sich menschlich zueinander verhalten. Hier umzudenken ist ein langer Prozess. Er ist notwendig. Einfacher, wenn auch abstrakter scheint die Einigung, dass in jedem Fall um die Verfügung über Zeit zu kämpfen ist – mit dem Ziel der selbstbestimmten Zeit für alle vier Bereiche. Arbeit ist Zeitverwendung. Ausbeutung ist Verfügung über fremde Arbeitskraft und somit Zeit. Die Themen hängen also ineinander.

In Diskussionen über eine Arbeitszeitverkürzung wird sehr schnell die Frage gestellt: Wer soll das bezahlen?

Diese Frage ist an sich ungeheuerlich. Sie fragt vor dem Hintergrund einer so großen Produktivkraftentwicklung, dass nur noch die Hälfte oder weniger der notwendigen Arbeitszeit gebraucht wird, um die gesellschaftlich notwendige Arbeit zu erledigen. Wenn man also die Erwerbsarbeitszeit nicht entsprechend verkürzt, heißt das, man schafft Arbeitslose. Wer zahlt diese? Oder steht hinter der Frage gar die Idee, man sollte die Arbeitslosen verhungern lassen und aus der Gesellschaft rauswerfen – sie „an den Rändern verlieren“, wie Peter Hartz, der Autor der Hartz-IV-Regelung, vorschlug? Mit anderen Worten: Die jetzige Lösung stuft einfach einen Teil der Bevölkerung aufs Existenzminimum und bezahlt nur den anderen Teil, stets weniger übrigens, wenn man nicht zu den ganz Oberen gehört. Aber bezahlt werden muss in jedem Fall. Gerechte Verteilung des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums auf alle setzt eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit voraus.

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Raewyn Connell im Interview – Teil 2

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Raewyn Connell gilt als eine der Mitbegründerinnen der akademischen Männlichkeitsforschung, ihr Werk „Masculinities“ (1995) ist das meistzitierte in diesem Feld. Derzeit lehrt die Soziologin an der Universität von Sydney, wo sie einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften innehat. Auf der „Männertagung“ 2011, die Ende Oktober in Graz (Österreich) stattfand, sprach sie mit mir über ihr Konzept der „Hegemonialen Männlichkeit“, rechtskonservative Strömungen innerhalb der Männlichkeitsforschung und skrupellose Manager.

Raewyn Connell

Sehen Sie Männlichkeitsforschung als eine eigene Disziplin? Sollte sie ein integrierter Bestandteil der Gender Studies / Geschlechterforschung sein oder sollte es eine unabhängige Finanzierung dafür geben?

Ich hege keinerlei Zweifel darüber, dass Männlichkeitsforschung ein Teil der Gender Studies ist. Wenn man sie von den Gender Studies trennt, so verliert man auch einen großen Teil des intellektuellen Potentials. Und was ist Männlichkeit anderes als geschlechterbezogene Fragestellungen in Bezug auf Männer? Es macht überhaupt keinen Sinn, über Männlichkeit zu sprechen, ohne von Gender zu sprechen.

Es ist im Grunde also intellektuell nicht vertretbar, Männlichkeitsforschung als eigene Disziplin etablieren zu wollen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es hier einen wesentlichen Unterschied zur Frauenforschung gibt. Für die Bezeichnung „Frauenforschung“ gab es gute politische Gründe – es ging um die Kritik einer patriarchalen Ideologie im System der Wissensproduktion, schließlich war die gesamte Wissenschaft männlich geprägt. In gewissem Sinne hat es also schon immer „Männerforschung“ gegeben, all unsere Geschichtsbücher sind voll von Erzählungen über Könige und Generäle. Die Idee der Frauenforschung war es, diese Kluft, dieses Defizit in der Wissensproduktion zu benennen und zugleich ein Alternativkonzept anzubieten. Der Name „Frauenforschung“ war also Teil eines politischen Akts.

Die Männerforschung oder Männlichkeitsforschung hat nun aber natürlich nicht diesen Charakter, denn Männer sind schon immer im Zentrum der Wissenschaften gestanden. Wenn du dich mit Männern auseinandersetzt, dann erforschst du die dominante Gruppe innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft. Ich selbst habe eigentlich nie die Bezeichnung „Männerforschung“ verwendet. Aber weil sich eben dieser Begriff durchsetzte, konnten sich ihn auch reaktionäre Gruppen aneignen, die sagten: Seht her, Frauen haben jetzt die Frauenforschung, Lehrstühle und Ressourcen und Männer sind davon ausgeschlossen – natürlich konnten sie das nur sagen, weil sie die tatsächliche Realität ignorierten.

Aber rechtskonservative Strömungen scheren sich eben nicht besonders um die Wahrheit, sondern vielmehr um den emotionalen Effekt. Es gibt also leider eine Art rechtskonservative Version der Männerforschung, die Männer als Opfer konstruiert, Jungen als Opfer ihrer Lehrerinnen und geschiedene Männer als Opfer von Feministinnen.

Sie arbeiten zurzeit gerade an einem Forschungsprojekt über die Biographien von Managern. Manager und ihre Entscheidungen sind im Zuge der Finanzkrise auch in den Medien zu einem beliebten Thema geworden. Aber obwohl über 90 Prozent der Manager Männer sind, wird nur wenig über geschlechtsspezifische Faktoren der Krise gesprochen. Ist die Finanzkrise eine „männliche“ Krise oder gar eine Krise der Männlichkeit?

Weder noch, es ist eine Krise des Finanzsystems, die von bestimmten Gruppen skrupelloser, profitgieriger Männer verursacht wurde. Diese Männer repräsentieren eine besonders schädliche Version hegemonialer Männlichkeit. Aber es handelt sich um keine Krise der Männlichkeit, denn diesen Männern geht es ziemlich gut, nur wenige von ihnen sitzen mittlerweile im Gefängnis. Die meisten haben ihr Geld gerettet und machen weiter wie bisher, bekommen ihre Boni und ihre Profite.

Es ist also keine Krise der Männlichkeit, es ist eine Krise, die von Menschen verursacht wurde, die sehr viel Macht und wenig soziales Verantwortungsgefühl haben. Männlichkeit ist in diesem Fall relevant, um besser verstehen zu können, was hier eigentlich passiert ist.

Dieses Interview ist bereits  in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift “an.schläge” erschienen.

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